Die Digitalisierung in Deutschland schreitet nicht nur in Berlin, Hamburg oder München voran. Auch im ländlichen Raum etablieren sich digitale Anwendungen in verschiedenen Bereichen wie Mobilität, Energie, Wirtschaft und gesellschaftlicher Teilhabe. Als Äquivalent zu den Smart Cities entstehen hier sogenannte Digitale Dörfer, die Bewohner miteinander vernetzen, über aktuelle Geschehnisse informieren, Verwaltung digitalisieren und die lokale Wirtschaft stärken. Eines dieser Digitalen Dörfer liegt im rheinland-pfälzischen Landkreis Altenkirchen im Grenzbereich von Siegerland und Westerwald: die Verbandsgemeinde Betzdorf-Gebhardshain.
Das Gemeinschaftsprojekt Digitale Dörfer des Fraunhofer-Instituts für Experimentelle Software Engineering IESE Kaiserslautern, dem Ministerium des Innern und für Sport sowie der Entwicklungsagentur Rheinland-Pfalz e. V. startete im März 2015. Nach einem Ideenwettbewerb in rheinland-pfälzischen Gemeinden wurden die beiden Verbandsgemeinden Betzdorf-Gebhardshain sowie Eisenberg und Göllheim ausgewählt. „Mit der Digitalisierung eröffnen sich neue Chancen“, sagt Sarah Brühl, Projektkoordinatorin von „Betzdorf digital“, einer Lokalkampagne im Rahmen des Projektes Digitale Dörfer. Der ländliche Raum werde für Ansässige und Zugezogene immer mehr zum Arbeits- und zugleich Wohnort. „Durch den digitalen Wandel werden räumliche und zeitliche Einschränkungen überwunden, sodass moderne Arbeitsprozesse Heimarbeit, Büro und naturnahes Wohnen, aber auch Familie und Beruf miteinander vereinbaren können.“
Nach der ersten Phase des Gemeinschaftsprojekts Digitale Dörfer, die lokale Nahversorgung mit ehrenamtlich beteiligten Bürgern kombinierte, startete im Januar 2017 die Phase 2. Diese stellte die Themenfelder Kommunikation und Mobilität in den Mittelpunkt. Derzeit werden digitale Lösungen konzipiert und getestet, die in Workshops mit Bürgern aus der Verbandsgemeinde entstanden.
Digitale Anwendungen vernetzen die Bewohner der Gemeinde
Zum Projekt Digitale Dörfer zählen im Kern vier digitale Anwendungen:
- Der DorfFunk soll zur Kommunikationszentrale der Region werden, in der Bürger ihre Hilfe anbieten, Gesuche einstellen, über Events informieren oder auf Mängel wie überfüllte öffentliche Mülltonen hinweisen können.
- Die BestellBar ist ein Online-Marktplatz, auf dem lokale Einzelhändler ihr Angebot präsentieren können und Online-Bestellungen annehmen.
- Mit der LieferBar können Gemeindemitglieder einsehen, welche Bestellungen aus der BestellBar, beispielsweise für ihren Nachbarn, noch auf Auslieferung warten und diese mitnehmen, um sie beim Empfänger abzugeben.
Die beiden Angebote BestellBar und LieferBar wurden in der ersten Projektphase in der Verbandsgemeinde Betzdorf-Gebhardshain mit 16 lokalen Einzelhändlern getestet. Mittlerweile können diese alle Kommunen in Rheinland-Pfalz kaufen.
- Tagesaktuelle Neuigkeiten aus der Verbandsgemeinde, beispielsweise zu kulturellen Veranstaltungen, Reportagen, Sportevents, Öffnungszeiten oder dem aktuellen Verkehrsaufkommen, finden die Betzdorf-Gebhardshainer auf einer Website namens DorfNews. Die Meldungen stammen aus dem Amtsblatt, Mitteilungsblättern oder wurden von den Bürgern der 26.000 Einwohner umfassenden Gemeinde selbst geschrieben.
„Gerade ältere Menschen schätzen die neuen Kommunikationsmöglichkeiten, die sie durch die digitalen Anwendungen DorfNews und DorfFunk erhalten“, so Sarah Brühl.
Die Gemeinde digitalisiert sich dank Highspeed-Internet
Zusätzlich zum Projekt Digitale Dörfer hat die Verbandsgemeinde Betzdorf-Gebhardshain in einem digitalen Arbeitspapier weitere für sie relevante Handlungsfelder in diesem Bereich vorgestellt. Neben dem Ausbau der notwendigen Infrastruktur zählen hierzu Wirtschaft, Energie, der demografische Wandel, Arbeit, Verwaltung, Verbraucherschutz und die gesellschaftliche Teilhabe und Kultur. Der Bereich Bildung und Jugendpflege umfasst unter anderem IT-Info-Schulungen oder spezielle Programmier-Kurse. Die Integrierte Gesamtschule Betzdorf-Kirchen erhielt eine Auszeichnung als MINT-freundliche (MINT = Unterrichtsfächer aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) und digitale Schule. Seit 2011 nimmt sie am Landesprogramm „Medienkompetenz macht Schule“ teil.
Im Rahmen eines Förderantrags des Landkreises Altenkirchen für das Bundesförderprogramm Breitband des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) wird die IGS Betzdorf-Kirchen an das schnelle Internet angeschlossen. Der Landkreis erhält für den Ausbau des Breitbandnetzes in den Orts- und Verbandsgemeinden 6,6 Millionen Euro Bundesfördermittel sowie 5,3 Millionen Euro Fördermittel durch das Land Rheinland-Pfalz. Außerdem werden 1,3 Millionen Euro Eigenmittel für das kreisweite Infrastrukturprojekt aufgebracht. Durch den geförderten Breitbandausbau sollen über 14.000 Haushalte, über 2.500 Unternehmen sowie 102 institutionelle Nachfrager, darunter 55 Schulen und weitere Bildungseinrichtungen, 40 Verwaltungsgebäude sowie sieben Rettungsdienstleitstellen, an das schnelle Internet angeschlossen werden. Hierfür sollen 160 Kilometer Tiefbauarbeiten durchgeführt werden.
Der Breitbandausbau im ländlichen Raum bildet die Grundlage für viele digitale Angebote, die Kommunen und Gemeinden entwickeln. Dem Bürgermeister der Verbandsgemeinde Betzdorf-Gebhardshain Bernd Brato zufolge ist Digitalisierung weitaus mehr als nur Breitbandausbau: „Wenn die Breitbandverfügbarkeit da ist, muss sich die Politik überlegen, wie sie die vorhandene Infrastruktur nutzt, um den ländlichen Raum zu stärken.“
Sarah Brühl ist sich sicher, dass es in Zukunft immer mehr datenintensive Anwendungen geben wird, die einen schnellen Internetanschluss erforderlich machen: „Highspeed-Internet sollte im Bereich der Daseinsvorsorge so selbstverständlich wie Wasser und Strom sein“, sagt sie.
Von der Digitalisierung profitieren Jung und Alt gleichermaßen
Mithilfe der Digitalisierung wird der ländliche Raum auch bei jungen Menschen attraktiver. Dies kann dem demografischen Wandel, von dem viele dieser Regionen betroffen sind, entgegenwirken. Mit den digitalen Lösungen aus Projekten wie „Digitale Dörfer“ sind die Bewohner über ihre Gemeinde und deren Angebote besser informiert, erhalten unkomplizierten Zugang zu den richtigen Ansprechpartnern in der Verwaltung und können Ressourcen, beispielsweise im Bereich der Mobilität, mit ihren Mitmenschen besser teilen und sich gegenseitig helfen. Die Verbandsgemeinde Betzdorf-Gebhardshain wird einen ehrenamtlich betriebenen Bürgerbus in Betrieb nehmen, der Mitfahrende kostenlos zu ihrem Ziel bringt.
Auch für ältere Menschen vereinfacht sich der Zugang zu alltagserleichternden digitalen Angeboten durch die kreativen Ideen der Landkreise und Gemeinden. In Betzdorf wird den Senioren in Schulungen der Umgang mit Tablets gezeigt. Dies soll die häufig vorhandene Hemmschwelle für die Benutzung technischer Geräte senken. Eine zentrale Plattform, bei der alle Bürger einer Gemeinde zusammentreffen können, findet bei Dorfbewohnern aus allen Altersbereichen großen Zuspruch und steigert die Lebensqualität der Dorfgemeinschaft.
Ein wesentliches Ziel des Projekts Digitale Dörfer ist es, auch andere Gemeinden und Landkreisen die Nutzung der Anwendungen zu ermöglichen. Im konkreten Fall hat sich der Landkreis Gießen, der ebenfalls vom Bundesförderprogramm Breitband profitiert, bereits ein Bild vor Ort gemacht. Landrätin Anita Schneider besuchte die Verbandsgemeinde Betzdorf-Gebhardshain und stellte fest, dass mithilfe des Projekts dort, wo die Nachbarschaftshilfe zurückgeht, neue Impulse gesetzt werden: „Wenn wir die Möglichkeiten der digitalen Welt nutzen können, um die Dörfer im Gießener Land modern aufzustellen, sollten wir das auch tun, weil wir so das Miteinander in der Region ausbauen können.“
Foto oben: Das Rathaus von Betzdorf.
Fotocredit: Marc Rosenkranz
Fotos Mitte: Digitale Dörfer (Fraunhofer IESE); Kinder lernen spielerisch digitale Anwendungen kennen (Felix Garcia-Diaz); Barbaraturm (Marc Rosenkranz); Ausblick auf Ortsgemeinde Steinebach (Marc Rosenkranz).