Foto: Lea Bergmann, Verbandsreferentin vom Verband für Digitalisierung in der Sozialwirtschaft e.V., Verantwortliche für das Sondierungsprojekt KI in der Pflege

Die Digitalisierung der Sozialwirtschaft bietet ein großes Potenzial, Prozesse effizienter zu gestalten und dem steigenden Pflegebedarf bei gleichzeitigem Fachkräftemangel entgegenzutreten. Schon heute tragen digitale Anwendungen maßgeblich zur Unterstützung der pflegerischen Tätigkeiten bei und optimieren die Versorgungsqualität. Auch Anwendungsfelder von KI werden in der Praxis erprobt und ausgebaut. Lea Bergmann, Verbandsreferentin vom Verband für Digitalisierung in der Sozialwirtschaft e.V., erläutert in der aconium GmbH-Interviewreihe „5 Antworten“, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf die Entwicklung von Pflegeberufen hat und welche Möglichkeiten KI in diesem Bereich bietet.

aconium: Wie weit ist die Digitalisierung der Sozialwirtschaft in Deutschland bereits vorangeschritten?
Lea Bergmann: Die Sozialwirtschaft liegt, im Bereich der Digitalisierung, im Vergleich zur Gesamtwirtschaft noch deutlich zurück. So heißt es im BFS-Report „Erfolgsfaktor Digitalisierung – Auf dem Weg zur Sozialwirtschaft 4.0“. Aber ein Blick in die Theorie zeigt auch: Digitalisierung ist ein Prozess. Dieser Prozess lässt sich grob in drei Stufen unterteilen, die aufeinander aufbauen. Das Fundament für eine erfolgreiche Digitalisierung, die Basisinfrastruktur, haben viele Sozialunternehmen inzwischen gelegt, beispielsweise durch PCs, Internetzugänge, Websites oder interne Dateninfrastrukturen. Im nächsten Schritt ist eine Digitalisierungsstrategie für das gesamte Unternehmen gefragt. So können Information und Kommunikation erfolgreich vernetzt werden. Bereits hier zeigen sich innerhalb der Sozialwirtschaft aktuell noch große Entwicklungsunterschiede. Die letzte Stufe der Digitalisierung ist die Entwicklung eines digitalen Geschäftsmodells. Diese letzte Stufe der Digitalisierung stellt die größte Herausforderung für viele Sozialunternehmen dar, bietet aber gleichzeitig die Chance, den anderen Herausforderungen, wie dem steigenden Pflegebedarf bei zunehmendem Fachkräftemangel, zu begegnen. Es braucht eine Offenheit und den Willen digitale Lösungen zu entwickeln.

aconium: In welcher Form unterstützt der vediso die Digitalisierung der Sozialwirtschaft und wie nimmt diese das Angebot an?
Lea Bergmann: Wir als vediso unterstützen unsere Mitglieder bei genau diesem Prozess der digitalen Transformation auf allen drei Stufen. Wir begleiten Sozialunternehmen bei der Digitalisierung ihrer Prozesse, bei der Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen und schaffen einen Raum für den Austausch und die Entwicklung digitaler Plattformen für die Leistungen der Sozialwirtschaft. Wir organisieren und führen Workshops und Kampagnen mit Bezug zur Digitalisierung durch. In unserem Netzwerk können sich die Mitglieder rund um die Fragen der Digitalisierung austauschen. Mitglied werden können alle gemeinnützigen Träger und/ oder Sozialunternehmen, die soziale Dienstleistungen für hilfebedürftige Menschen anbieten (https://vediso.de/mitglied-werden). Darüber hinaus bündeln wir innerhalb der Sozialwirtschaft Kräfte, um die Digitalisierung voranzutreiben. Dies tun wir im Rahmen konkreter Projekte, wie zum Beispiel dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Sondierungsprojekt zu KI in der Pflege (SoKIP). Neben der konkreten Projektarbeit geben wir der Sozialwirtschaft in Belangen der Digitalisierung eine Stimme. Wir benennen gegenüber der Politik Handlungsfelder, in denen durch staatliche Maßnahmen Teilhabe unmittelbar gefördert werden kann. Wir möchten als ein Unternehmen aus der Sozialwirtschaft für die Sozialwirtschaft einen Beitrag leisten.

aconium: Wie hat sich der Pflegeberuf im Zuge der Digitalisierung verändert? Welche digitalen Anwendungen konnten sich in diesem Bereich bereits bewähren und wo besteht noch Handlungsbedarf?
Lea Bergmann: Die Digitalisierung öffnet Türen. Digitale Lösungen unterstützen schon heute pflegerische Tätigkeiten effektiv und verbessern die Versorgungsqualität. So werden Mitarbeitende entlastet, die Sicherheit wird erhöht und für Pflegebedürftige wird digitale Teilhabe ermöglicht. Die digitale Vernetzung ermöglicht eine deutlich bessere Zusammenarbeit der beteiligten Akteure – beispielsweise zwischen Pflegeeinrichtungen, Angehörigen, Ärztinnen und Ärzten. Viele Fragen sind jedoch noch ungeklärt. Es braucht geeignete technische Standards und die Refinanzierung digitaler Betriebskosten. Eine Systemumstellung „auf digital“ muss strategisch und ganzheitlich angegangen werden. Gemeinsam in einem Verbändebündnis fordern wir Maßnahmen und Regelungen für die Digitalisierung in der Pflege. Diese haben wir in einem gemeinsamen Positionspapier zusammengefasst: https://vediso.de/standpunkte. Was wir an dieser Stelle betonen möchten: Gerade im Bereich der Pflege braucht es natürlich offene Augen und Ohren für die Praxis. Technisch ist viel machbar, aber nicht alles was machbar ist, ist auch gewünscht oder praxistauglich. Unternehmerische Freiheit und Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen müssen berücksichtigt und genutzt werden. Letztendlich kann eine umfassend durchdachte Digitalisierung helfen, den Pflegeberuf wieder attraktiver zu machen und zugleich die Pflegequalität insgesamt verbessern.

aconium: Welche Rolle spielt KI in der Pflege?
Lea Bergmann: Es gibt viele verschiedene Anwendungsbereiche für KI in der Pflege. Neben Pflege im Rahmen des SGB XI und des SGB V können KI-Lösungen auch in Gesundheitsförderung und Prävention, sowie in der eigenen Häuslichkeit angewandt werden. Nicht nur die Anwendungsbereiche, auch die Zielgruppen für den Einsatz von KI in der Pflege, sind divers. So spielen KI-Lösungen für pflegebedürftige Menschen, Pflegende und die Angehörigen der Pflegebedürftigen eine Rolle. Allgemein unterstützt eine KI-Lösung die Prozesse oder die Durchführung pflegerischer Versorgung. KI-Systeme können aber auch bei Entscheidungsprozessen in der Pflegepraxis Anwendung finden.

aconium: Welche Anwendungen der KI kommen in der Pflege bereits zum Einsatz und wo sehen Sie weiteres Potential?
Lea Bergmann: Insgesamt zeigt sich ein niedriger Status der KI-Einführung in der Pflege. Obwohl KI-gestützte Technologien seit mehreren Jahren zunehmend für die Anwendung in der Pflegepraxis entwickelt und erforscht werden, finden sich bislang vorrangig Fortschritte auf dem Gebiet robotischer Systeme. Anwendung findet KI bereits in der Dienstplanung, der Unterstützung von Dokumentationen sowie Sturzerkennung, der Überwachung von Harninkontinenz und der Früherkennung sich verschlechternder psychischer Zustände. Der Fokus liegt allgemein bislang eher im klinischen Anwendungsbereich oder im Bereich der Unterstützung des selbstbestimmten Lebens in der eigenen Häuslichkeit. Dort werden vor allem Sensordaten genutzt. Der zukünftige Einsatz von KI-Lösungen in der Pflege ist besonders vielversprechend und bietet die Chance auf praktische Akzeptanz und eine Erhöhung der Pflege-Qualität. Es ist allerdings ein weiterer gesellschaftlicher und berufspolitischer Diskurs über den Einsatz von KI in der Pflege notwendig. Der gewünschte gesellschaftliche Beitrag von KI zur Pflege ist gemeinsam mit den beteiligten Berufsgruppen, sowie der von den Entscheidungen der KI-Systeme betroffenen Personen, auszuhandeln. Unabhängig davon, ob es sich nun um ein KI-System oder eine andere digitale Technik in der Pflege handelt, bedarf es nachhaltiger Finanzierungs- und Rahmenkonzepte für den Einsatz von Technik. Hier sind Leistungsträger und Leistungserbringer, aber auch politische Akteure, gefragt, die im gemeinsamen Dialog entsprechende Konzepte erarbeiten und begünstigende Rahmenbedingungen schaffen müssen. Das eigentliche „neue“ Produkt ist nicht die technische KI-Lösung an sich, sondern die veränderte Dienstleistung der Pflege.

aconium: Vielen Dank, Frau Bergmann, für das Interview.