Foto: Wenn es möglich ist, reist Dr. Azim Mosafer (r.) persönlich nach Afghanistan, um dringend nötige Operationen durchzuführen. Die Diagnose stellt der Chirurg zuvor mithilfe von Telemedizin.

Dr. Azim Mosafer ist Oberarzt in einer deutschen Klinik – und behandelt Menschen in Afghanistan mit Hilfe von Telemedizin. Im Interview spricht er über die aktuelle Situation im Land und darüber, wie die Technologie das deutsche Gesundheitswesen nach vorne bringen kann.

Wie ist derzeit die Lage in Afghanistan? Können Sie Ihre Arbeit mit den Kolleg:innen dort überhaupt ausüben?
Mosafer: In Afghanistan herrscht derzeit eine unheimliche Dynamik. Die Lage ändert sich tagtäglich. Als die Taliban die Macht übernahmen, haben wir unser telemedizinisches Engagement erst einmal gestoppt – auch um unsere Mitarbeiter:innen zu schützen. Die Ortskräfte, die sich in Gefahr befanden, weil sie sich kritisch gegenüber den Taliban geäußert hatten, konnten wir inzwischen aus Afghanistan herausbringen. Sie fehlen uns natürlich: Als Telemedizin-Helfer:innen, zu denen wir sie in den vergangenen Jahren ausgebildet hatten, sind sie das Bindeglied zu den Ärzten und Klinken. Einige unserer Helfer:innen konnten bleiben. Sie arbeiten jetzt wieder in unseren Telemedizin-Zentren.

Welche Einschränkungen bestehen noch?
Mosafer:
Vor dem Machtwechsel hatten wir zwölf Telemedizin-Center in ganz Afghanistan. Im Augenblick sind vier von ihnen wieder in Betrieb. Die Ausstattung – Laptops, Bild-Scanner für Röntgen- und MRT-Aufnahmen – ist zum größten Teil während des Krieges verschwunden. Mit entsprechenden finanziellen Mitteln ließe sich das recht schnell beheben. Was sich nicht ersetzen lässt, sind die Fachkräfte, die ins Ausland flüchten mussten. Im Augenblick überlegen wir, wie wir mit einer App die teure Infrastruktur der Telemedizin-Zentren ersetzen können. Das Konzept steht, aber die Umsetzung ist teuer. Solange die internationalen Gelder für Afghanistan eingefroren sind, können wir hier vorerst nichts machen.

Wie läuft die telemedizinische Behandlung ab?
Mosafer: Als wir unsere Arbeit in Afghanistan begannen, haben wir noch Live-Diagnosen vorgenommen. Ärzt:innen in England, Schweden oder Deutschland haben Patient:innen in Afghanistan per Video-Schalte untersucht. Wir haben schnell festgestellt: Das ist aus organisatorischen Gründen nicht machbar. Heute findet die eigentliche Untersuchung bei den Kolleg:innen in Afghanistan statt. Extra von uns ausgebildete Helfer:innen im Telemedizin-Zentrum speisen die Unterlagen ins System ein, wo unsere Spezialist:innen die Daten analysieren und eine Behandlung empfehlen können. Fachlich decken wir das gesamte medizinische Spektrum ab: von Internist:innen über HNO, Dermatolog:innen bis hin zu Gynäkolog:innen.

Das heißt, die Ärzt:innen sehen ihre Patient:innen nie persönlich?
Mosafer: Natürlich gibt es auch Fälle, in denen der oder die konsultierte Kolleg:in sich ein persönliches Bild machen will. Bei einem solchen Termin arbeiten wir dann mit mindestens drei Kameras: vor der einen sitzt der oder die Patient:in, vor der zweiten der oder die Ärzt:in und über die dritte Kamera sind Röntgen- oder MRT-Bilder sichtbar. Dieses Vorgehen ist aber eher die Ausnahme als die Regel

Nach Ihrer Erfahrung: Wie erfolgversprechend ist eine telemedizinische Behandlung?
Mosafer:
Wir sind seit mehr als zehn Jahren in Afghanistan aktiv. Nach unseren Statistiken konnten wir rund 90 Prozent unserer Patient:innen dank der Telemedizin erfolgreich behandeln.

Welchen technischen Herausforderungen sind Sie ausgesetzt – gibt es stabiles Internet in Afghanistan?
Mosafer: Keine Frage, eine stabile Internetverbindung ist eine Herausforderung. Bis 2010 haben wir in Afghanistan aus Internetcafés gearbeitet. Inzwischen haben wir gemeinsam mit dem Erfurter Unternehmen TecArt eine Software entwickelt, mit der der Datenaustausch wunderbar funktioniert und die vor allem auch die Patientendaten vor dem unbefugten Zugriff schützt. Die derzeitigen Machthaber in Kabul haben unsere Koordinatoren gebeten, das Telemedizin-Projekt unbedingt weiterzuführen. Technisch gesehen haben wir derzeit jedoch große Probleme mit dem Internet: Unsere Telemedizin-Zentren in den entlegenen Gebieten können wir deshalb nicht betreiben. Und nach Kabul können viele unserer Patienten aus entlegenen Gebieten im Augenblick nicht kommen.

Das heißt aber auch: Wenn Sie den Menschen weiterhin helfen wollen, müssen Sie mit den Taliban zusammenarbeiten?
Mosafer: Ich möchte es mal so sagen: Telemedizin überwindet Grenzen – religiöse, ethnische, ökonomische. Wenn unser Netzwerk in der Bevölkerung besser bekannt ist, können wir den Menschen in Afghanistan direkt helfen – ohne den Umweg über die Politik. Dazu braucht es aber Kapital für Öffentlichkeitsarbeit, um der Bevölkerung zu erklären wie sinnvoll Telemedizin sein kann.

Inwieweit hilft Ihnen die Erfahrung aus dem Telemedizin-Engagement in Afghanistan für ihre tägliche Arbeit an der Zentralklinik Bad Berka/Weimar?
Mosafer: In Zeiten der Pandemie ist Telemedizin auch hier in Deutschland ein Thema. Wenn man bei uns an Telemedizin denkt, denkt man meist an die Beziehung Patient:in zu Mediziner:in. Für den schnellen Einstieg in die Thematik ist das aber in meinen Augen ungeeignet: eine solche Beziehung braucht Vertrauen und Vertrauen braucht Zeit. Deshalb sollten wir mit Tele-Konsil beginnen, das heißt Mediziner:innen tauschen sich anhand von Daten und Bildern über Patient:innen aus.

Hat die Telemedizin aktuell einen anderen Stellenwert als vor Beginn der Corona-Pandemie?
Mosafer:
Es gab ja hierzulande bereits kurz vor Beginn der Corona-Pandemie das politische Bemühen, Telemedizin nach vorne zu bringen. Allerdings wurde der Begriff Telemedizin dabei sehr weit gefasst – eine elektronische Gesundheitskarte hat für mich nichts mit Telemedizin zu tun. Ich vermisse eine Strategie, wie Telemedizin in den ärztlichen Alltag und den Alltag der Menschen Eingang finden könnte.

Wie sähe denn Ihre Strategie aus?
Mosafer:
Wenn Sie sich heute vor einen Supermarkt stellen und Menschen fragen, was Telemedizin ist – ich wette, dass 70 Prozent die Frage nicht beantworten können. Die Menschen in Deutschland wissen genauso wenig, was Telemedizin ist, wie die Menschen in Afghanistan. Wir brauchen also als erstes eine große Aufklärungskampagne zum Thema Telemedizin. Ein zweiter Schritt: Wir müssen die Infrastruktur schaffen, um überall Telemedizin betreiben zu können. In Afghanistan gibt es – bedingt durch die militärische Lage – eine breite Mobilfunkabdeckung. Das ist hier in vielen Gegenden nicht so. Und zum Dritten müssten die Ärzt:innen massiv in ihre Praxen investieren, um Telemedizin technisch möglich zu machen: Wir brauchen ein staatliches Förderprogramm für Telemedizin – ähnlich dem, wie wir es für Elektroautos haben.

Im Hinblick auf die älter werdende Bevölkerung und die Zukunft des ländlichen Raums – welche Rolle spielt Telemedizin?
Mosafer: Ich sehe da sehr große Chancen für den ländlichen Raum. Ich kann mir vorstellen, dass wir in Gegenden mit schwindender und alternder Bevölkerung Telemedizin-Zentren aufbauen. Dort sitzen speziell ausgebildete Telemedizin-Pfleger:innen, die einen persönlichen Draht zu den Menschen haben. Ärzt:innen in Kliniken und Fachpraxen können dank modernster Technologien  Entscheidungen auf Basis der übermittelten Daten treffen. So ließe sich zumindest eine Grundversorgung sicherstellen.

Zur Person:

Dr. Azim Mosafer (Jahrgang 1962) floh 1980 aus Afghanistan nach dem Einmarsch der Sowjetunion. In Bonn studierte er Medizin. Heute arbeitet der Wirbelsäulenchirurg als Oberarzt in der Zentralklinik Bad Berka bei Weimar. Dort gründete er auch den Afghanisch-Deutschen Ärzteverein Weimar (ADAV), der sich um den Aufbau des Gesundheitssystems in Afghanistan bemüht.