In unserer digitalen Welt sind wir es gewohnt, Zugriff auf unsere wichtigsten Daten zu haben – beispielsweise über Apps. Dieses Bedürfnis trifft auch auf unsere Gesundheitsdaten zu, meint Sebastian Zilch, Geschäftsführer des Bundesverbands Gesundheits-IT – bvitg e. V. Im Interview nennt er mögliche Einsatzgebiete für mobile Health-Anwendungen wie Gesundheits-Apps und beschreibt die Vorteile der digitalen Helfer für Patienten und Mediziner.
aconium: Wie verbreitet sind mHealth-Anwendungen in Deutschland?
Sebastian Zilch: Derzeit gibt es rund 90.000 Gesundheits-Apps, von denen circa 8.700 aus dem deutschsprachigen Raum stammen. Die Auswahl und der Einsatz der mobilen Anwendungen unterscheiden sich stark, da sich diese an den Ansprüchen der Patienten orientieren. Mobile Anwendungen werden entweder auf dem freien Markt oder von den Krankenkassen im Rahmen ihres Versorgungsauftrages zur Verfügung gestellt. Auch als Lifestyle- beziehungsweise Fitness-Apps sind mHealth-Anwendungen beliebt und im großen Umfang im Einsatz. Allerdings sind derartige Applikationen nicht im Versorgungsalltag aktiv integriert, sodass weder Ärzte, Krankenhäuser noch Pflegekräfte diese sinnstiftend nutzen können. Dies liegt vor allem an den hohen Anforderungen zum Nachweis von Evidenz – dem medizinischen Nutzen – im Gemeinsamen Bundesausschuss, dem höchsten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen. Aktuell stehen den Versicherten in Deutschland keine digitalbasierten Anwendungen über die Regelversorgung zur Verfügung.
aconium: Welche Möglichkeiten bieten mHealth-Anwendungen den Patienten und Ärzten?
Zilch: Egal ob Fitness-, Gesundheits-, Lifestyle-Apps, Sport- oder medizinische Apps – mobile Anwendungen steigern die Lebensqualität durch Gesundheitsförderung, Prävention und Nachsorge. Eine Klassifizierung von mobilen Anwendungen im Gesundheitsbereich ist bedingt sinnvoll, da diese sich sowohl von der Zielstellung als auch beim Einsatz erheblich unterscheiden. Zum einen gibt es relativ einfache Applikationen, mit denen Nutzer ihre Vitaldaten messen und auswerten können oder Schmerz- beziehungsweise Diabetestagebücher führen. Zum anderen gibt es Anwendungen, die direkt in die Diagnostik eingreifen und/oder Therapieempfehlungen abgeben, also ein Medizinprodukt höherer Risikoklasse darstellen und aufgrund der aktuellen rechtlichen Rahmenbedingung nur stark begrenzt in der Versorgung im Einsatz sind.
Eine Anwendung, die den Patienten ab 2021 auch mobil zur Verfügung stehen soll, ist die elektronische Patientenakte (ePA). Die Patienten können über ihre mobilen Endgeräte zentral ihre Daten verwalten und den Ärzten ihre Krankenakte zur Verfügung stellen. Die Leistungserbringer können somit schnell wichtige Befunde oder Vorerkrankungen in der ePA recherchieren und somit die Behandlung zielgenauer bestimmen. Doppeluntersuchungen und Wechselwirkungen von Medikamenten werden so vorgebeugt.
Was alle Anwendungen eint ist, dass diese Leben retten und verlängern können. Dies verdeutlicht die Fontane Studie der Charité 2018. Die Ergebnisse zeigen, dass durch Telemedizin eine signifikant geringere Gesamtsterblichkeit bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen durch digitale Angebote erreicht wird.
aconium: Mit welchen Herausforderungen muss sich die Gesundheitsbranche bei der Nutzung von Daten aus mHealth-Anwendungen beschäftigen?
Zilch: Um das Potenzial von mHealth-Anwendungen voll auszuschöpfen, muss ein reibungsloser Datenfluss über die Sektorengrenzen hinweg sichergestellt werden, damit die Daten den Ärzten im Zuge der Anamnese – der Erfassung der Krankengeschichte –, der Diagnose und Behandlung zur Verfügung stehen. Sinn- und nutzstiftende mHealth-Anwendungen ermöglichen die Weitergabe und Verwaltung von Daten von der ambulanten in die stationäre bis hin zur pflegerischen Nachsorge. Eine Grundvoraussetzung ist dabei die semantische und syntaktische Interoperabilität – also eine einheitliche Sprache –, die einen Datenfluss in und über die Primärsysteme ermöglicht. Dabei sollte vor allem auf die Nutzung von internationalen Standards und Profilen geachtet werden, sodass die Anwendungen auch perspektivisch grenzüberschreitend einsetzbar sind.
Praktikable Datenschutzregelungen sind eine weitere Anforderung, die es umzusetzen gilt. So kann es zum Beispiel nicht sein, dass in einigen Bundesländern die im Rahmen einer stationären Behandlung erhobenen Daten nicht den physischen Serverraum der Krankenhäuser verlassen dürfen. Dies steht einer innovativen, vernetzen Versorgung mithilfe von mHealth-Anwendungen diametral entgegen. Für die meisten Anwendungen existieren bereits weitgehende gesetzliche Anforderungen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), des Bundesdatenschutzgesetzes, landesspezifischer Datenschutzgesetze sowie Fachgesetze.
aconium: Wie können diese Herausforderungen überwunden werden?
Zilch: Damit mHealth-Anwendungen ihr volles Potenzial entfalten können, müssen diese den Versicherten vollumfänglich zur Verfügung stehen und im Versorgungsalltag integriert werden. Hierfür braucht es unbedingt neue Mechanismen, die der hohen Dynamik und der kurzen Innovationszyklen von digitalen Anwendungen Rechnung tragen. Das Digitale-Versorgung-Gesetz von Bundesminister Jens Spahn geht mit dem digitalen Gesundheitsverzeichnis in die richtige Richtung.
Der Ausbau telemedizinischer Infrastruktur und generell der digitalen Infrastruktur (Glasfaser- und Breitbandausbau) ist eine Vorrausetzung für einen erfolgreichen Einsatz von mHealth-Anwendungen sowohl in der Stadt als auch auf dem Land.
Zertifizierungen oder „Gütesiegel“, die alle Gesundheitsanwendungen auf ein einheitliches Set an Anforderungen überprüft, entspricht nicht der Heterogenität der mHealth-Anwendungen und deren verschiedenen Ansätzen. Im Gegenzug wären die Aufklärungsarbeit beziehungsweise das Patient-Empowerment wichtige Aufgaben: Nur wenn die Patienten klar und verständlich über den Nutzen, die Potenziale, aber auch über mögliche Risiken aufgeklärt werden, können diese selbst über die Nutzung der Anwendungen entscheiden. Hier gilt es besonders, die Empfehlungen der einzelnen medizinischen Fachgesellschaften zu berücksichtigen.
aconium: Wie würde der optimale Einsatz von mHealth-Anwendungen Ihrer Meinung nach aussehen?
Zilch: Mobile Anwendungen müssen den Versicherten in der Regelversorgung von Anfang an zur Verfügung stehen und aktiv in die Versorgung integriert sein. Bereits in der Prävention können mHealth-Anwendungen eine entscheidende Rolle zur Vorbeugung von Erkrankungen spielen: etwa durch Aufklärung kardiovaskulärer Risikofaktoren oder der Prävention von Krebserkrankungen. Mithilfe von telemedizinischen Anwendungen wie der Fernbehandlung und der Teleberatung wird die Versorgung des ländlichen Raums im Zuge des demografischen Wandels gewährleistet und sorgt zudem für eine Entlastung der Kliniken. Zudem spielen mobile Anwendungen auch in der Nachsorge und Pflege eine große Rolle, zum Beispiel bei der Echtzeit-Überwachung von Vitaldaten nach dem Einsatz von Herz- beziehungsweise Gefäßklappen. Im digitalen Informationszeitalter möchten wir zu jeder Zeit, an jedem Ort der Welt erreichbar sein und Zugriff auf unsere Daten haben. Es ist deshalb nur logisch, wenn unser Gesundheitssystem dem Rechnung trägt.