Im Gespräch mit Jurij Matsyk über die derzeitige Lage der ukrainischen Telekommunikation – und was sie zum Bestehen benötigt

Die FTTH Conference fand letzten Monat in Madrid statt.

Im letzten Jahr erhielt der Vortrag von Andrii Nabok, Abteilungsleiter „Stationäres Breitband“ im ukrainischen Ministerium für Digitale Transformation, große Aufmerksamkeit. Andrii Nabok gab einen Rück- und Ausblick der Netzinfrastruktur in der Ukraine. Er erläuterte eindrucksvoll, welche Bedeutung eine gute und stabile Telekommunikationsinfrastruktur hat und wie unter stärkstem Einsatz Fachkräfte versuchen die Kommunikation aufrecht zu erhalten.

In diesem Jahr lag das Hauptaugenmerk auf dem Podiumsgespräch mit Jurij Matsyk, dem Leiter der MDT-Direktion für Festnetzbreitband des Ministeriums für digitale Transformation der Ukraine. Die aconium steht als langjähriger und kompetenter Partner an der Seite der Ukraine und setzt zusammen mit dem Ministerium für Digitale Transformation der Ukraine (MDTU) und dem EU4DigitalUA-Projekt ein Breitbandinformationssystem für den ukrainischen Breitbandausbau um. Am Rande des Messegeschehens ergab sich für die aconium GmbH die Gelegenheit, ein persönliches Gespräch mit Herrn Matsyk zu führen.

Herr Matsyk, wie war die Situation in der Ukraine vor dem 24. Februar 2022 in Bezug auf den FTTH-Ausbau? Was waren diesbezüglich Ihre Pläne?

Zunächst einmal hat die ukrainische Regierung im Jahr 2020 vier strategische Ziele für die Digitalisierung festgelegt.

  1. 100 Prozent der öffentlichen Dienstleistungen online stellen.
  2. Sechs Millionen Ukrainern digitale Grundkenntnisse vermitteln.
  3. Der Anteil der IT am Bruttoinlandsprodukt des Landes soll von 4 auf 10 Prozent steigen.
  4. 95 Prozent der Bevölkerung und der sozialen Einrichtungen sollen mit mobilem und festem Hochgeschwindigkeitsinternet versorgt werden.

Bis zum 24. Februar war also alles klar definiert und wir waren dabei, diese Ziele zu erreichen. Wir schufen eine mobile Anwendung namens DIIA mit Online-Regierungsdiensten, dem Webportal DIIA.Education, haben die Sondersteuerregelung DIIA.City aufgesetzt und wir haben es geschafft, dass 90 Prozent der Bürger:innen die Möglichkeit hatten, Hochgeschwindigkeitsinternet zu nutzen. Über eine Million Ukrainer:innen in 3.000 Dörfern hatten zum ersten Mal die Möglichkeit, Hochgeschwindigkeits-Internet zu nutzen. Fast drei Millionen Ukrainer:innen in 8.000 Städten hatten zum ersten Mal Zugang zu 4G. Und dann fiel Russland in die Ukraine ein.

Wie hat sich die Situation seit Februar 2022 entwickelt?

Wie Sie wissen, befindet sich unser Land seit vierzehn Monaten in einem ausgewachsenen Krieg. Das Aufladen eines Smartphones oder Tablets hat an Bedeutung gewonnen. Schließlich gibt es nichts Wichtigeres, als mit seiner Familie in Kontakt zu bleiben. Als ersten Punkt möchte ich einige Zahlen präsentieren. Die ITU sagt in ihrer Zwischenbilanz über die Schäden an der Telekommunikationsinfrastruktur und die Widerstandsfähigkeit:

IKT-Netze von Betreibern wurden teilweise und manchmal vollständig zerstört oder besetzt.

Es wurden mehr als 1.000 Cyberangriffe gemeldet, die auf IT und Telekommunikation abzielten.

20 Prozent oder mehr als 6.000 Basisstationen wurden beschädigt oder zerstört.

Mehr als 700 Festnetzbetreiber haben unter der zerstörten Infrastruktur gelitten.

Nach Angaben der Weltbank belaufen sich die Verluste im Telekommunikationssektor auf zwei Milliarden Dollar.

Was bedeuten diese Zahlen? Stellen Sie sich vor, wir sitzen in einem Raum. Sie müssen einen sehr wichtigen Anruf zur Arbeit oder zu Verwandten tätigen und Sie haben die Verbindung zum Internet und zu den Mobilfunknetzen verloren. Und darüber hinaus gibt es auch noch keinen Strom. Und Sie wissen nicht, wie lange diese Situation andauern wird. Die nächsten vier Stunden oder vier Tage oder mehr. Können Sie sich das vorstellen? Leider ist das unsere Realität. Wir haben das im letzten Winter jeden Tag durchlebt.

Wie wichtig ist die Telekommunikationsinfrastruktur für die ukrainischen Streitkräfte seit Beginn des Krieges?

Dieser Krieg hat den Blick auf das Schlachtfeld verändert. Wenn man Drohnen einsetzt, hat man lokal einen Vorteil an der Front. Wenn man diese Technologie mit militärischen Entscheidungspunkten verbindet, erhält man einen strategischen Vorteil im Krieg. Und in diesem Glied der Kette müssen wir widerstandsfähige Internetverbindungen zwischen allen militärischen Punkten herstellen, die Probleme auf dem Schlachtfeld lösen.

Außerdem nutzen alle militärischen Punkte die Internetverbindung, um die militärischen Abteilungen zu betreiben. Deshalb muss ein stabiler Internetzugang zuverlässig, sicher und geschützt sein. Wir müssen viel sichere Verbindungen zwischen den Ländern aufbauen und uns von der Abhängigkeit vom Feind befreien. Nicht nur bezüglich des Stroms und Gases, sondern auch des Internets.

Wie stark sind die zivilen Infrastrukturen betroffen? Können einige Teile des Landes „normal“ funktionieren?

Im vergangenen Jahr hatten wir drei verschiedene große Herausforderungen für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur zu bewältigen. Zunächst wurden viele Backbone-Leitungen zerstört – und zwar an vielen Orten gleichzeitig. Selbst wenn die Nutzer:innen weit weg von der Front wohnen, hatten sie Probleme mit den Internetdiensten. Das bedeutet, dass wir ein Netz mit zusätzlicher Kapazität im Backbone und drei unabhängigen Verbindungsleitungen zwischen den Vermittlungsstellen planen sollten. Zweitens wurden einige der Mobilfunktürme und Festnetze nach der Invasion vorübergehend wiederaufgebaut. Ihre Resilienz muss in Zukunft verbessert werden. Und das kann einen kompletten Wiederaufbau bedeuten. Und drittens: Die Feinde haben die Stromnetze zerstört und das ukrainische Telekommunikationsnetz war nicht in der Lage, dieses Problem zu lösen. In den letzten vier Monaten haben wir mindestens zwölf Stunden pro Tag ohne Strom überlebt: Meine schlimmste Erfahrung war, 29 Stunden am Stück keinen Strom zu haben. Noch schlimmer war es für meine Familie, als sie 72 Stunden lang keinen Strom hatte. Während der geplanten Stromausfälle alle vier Stunden funktionierten 70 Prozent der Festnetzdienste nicht. Das erwies sich als ein Hauptproblem. Nur ein passives optisches Netz kann in solchen Situationen effektiv sein.

Wie gelingt es Ihnen, die Telekommunikationsinfrastruktur praktisch und technisch einigermaßen funktionsfähig zu halten? Welche neuen Technologien und Ressourcen haben Sie eingesetzt? Satelliten?

Als alle Mobilfunkbetreiber mit dem Problem der zerstörten Basisstationen konfrontiert wurden, schlossen sie sich zusammen und richteten internes Roaming ein. Das heißt, wenn ein Betreiber eine Basisstation verliert, können die Kunden über einen anderen Betreiber telefonieren. Die Regierung hat diese Entscheidung unterstützt. Außerdem erhielten die Mobilfunkbetreiber neue Frequenzen ohne dafür bezahlen zu müssen.

Zu Beginn des Krieges haben die Telekommunikationsunternehmen ihre Dienste für Kunden, die ihre Rechnungen nicht bezahlen konnten, nicht eingestellt. Viele Geschäfte, Tankstellen, Postämter und andere Orte eröffneten Standorte, an denen man Geräte aufladen und eine WiFi-Verbindung herstellen konnte.

Die Regierung, Telekommunikationsverbände und Unternehmen erhalten Spenden für die Wiederherstellung der Netze und deren Wartung. Der feste und mobile Internetzugang wurde teilweise wiederhergestellt. Dies ist aber ein langer und teurer Wiederherstellungsprozess.

Und schließlich haben wir Starlink eingesetzt. Einige Betreiber nutzten Starlink als Uplink, um Dörfer zu verbinden. Alle Kund:innen in den Dörfern, die über ein Festnetz verfügen, haben Zugang zum Internet. Butscha war eine der ersten Städte, die von dem Feind heimgesucht wurde. Nach der Invasion gab es in dieser Stadt nichts mehr. Keine Wasserversorgung. Kein Stromlieferant. Kein Gas, keine Heizung. Doch der Mobilfunkbetreiber schloss einen Generator und Starlink an eine der Basisstationen an. So bekamen die Menschen die Möglichkeit, ihre Telefone aufzuladen, ihre Familien anzurufen und die Nachrichten zu lesen. Später setzten die Betreiber tragbare mobile Basisstationen an Orten ohne Internetzugang ein. Diese schnellen Lösungen haben uns sehr geholfen.

Welche Unterstützung erhalten Sie von anderen europäischen Ländern und von den EU-Institutionen?

Heute nutzen wir etwa 42.000 Starlink-Terminals. Die meisten Starlink-Terminals erhielten wir von der polnischen Regierung (14.500), von der deutschen Regierung (10.000), von der Initiative der Digitalisierungsministerien der EU-Länder (5.000), von USAID und verschiedenen privaten Unternehmen und Personen.

NOG Alliance gehört zu unseren Unterstützern. Sie haben die Initiative Keep Ukraine Connected ins Leben gerufen. Auch UNDP, DG Connect, EU4Digital, EU4DigitalUA, CEF, und andere helfen uns bei der Wiederherstellung des Internetzugangs und bei der Umsetzung der europäischen Gesetzgebung. Ich bedanke mich bei der aconium GmbH für die langjährige Unterstützung unserer Initiativen mit exzellenter technischer Expertise und für die Möglichkeit, hier auf internationalen Bühnen über die Ukraine zu sprechen.

Zusätzlich ist die Ukraine ein Beitrittskandidat für die Europäische Union und wir bemühen uns um den Anschluss an den europäischen digitalen Binnenmarkt sowie um die Integration in die EU.

Welche zusätzliche Unterstützung benötigen Sie?

Wir haben heute drei dringende Aufgaben, deren Lösung dem ukrainischen Bereich der elektronischen Kommunikation eine starke Unterstützung bieten wird:

1. Wiederherstellung der Telekommunikationsinfrastruktur: Heute müssen wir die Telekommunikationsinfrastruktur nach der Invasion wiederherstellen und alle Teile der Internet-Netzwerke, einschließlich des internationalen Backbones, wesentlich widerstandsfähiger, sicherer und geschützter machen.Welche Lösung kann dabei helfen? Die Regierung hat heute mit dem Pilotprojekt zum Wiederaufbau einiger Städte begonnen. Wir bemühen uns auch um die Finanzierung von Projekten zur Wiederherstellung des Telekommunikationsbereichs in der Ukraine…

Die Regierungen befreundeter Staaten könnten ihre eigenen Unternehmen unterstützen, die den Wiederaufbau des Internet-Netzwerke in der Ukraine durchführen.

Es kann sinnvoller sein, wenn deutsche Unternehmen oder Unternehmen aus anderen Ländern sich mit den lokalen Regierungen in der Ukraine und privaten Betreibern zusammenschließen und gemeinsam neue, sicherere und widerstandsfähigere Internet-Netzwerke in den besetzten Städten errichten.

Die Ukraine ist heute das beste Testgebiet für innovative Lösungen und die Unternehmen, die die Gelegenheit während des Krieges nutzen konnten, werden definitiv einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen haben.

2. Humankapital: Die ukrainischen Unternehmen haben die Zahl ihrer Mitarbeitenden verringert. Einige von ihnen sind zur Armee gegangen und einige Frauen sind mit ihren Kindern ins Ausland gegangen. Das bedeutet, dass wir nach einer Möglichkeit suchen, ukrainische Mitarbeitende zu Telekommunikationsmitarbeitenden auszubilden, die in der Lage sind, neue Technologien zu nutzen.

3. Geldfluss: In den befreiten Gebieten verlassen viele Menschen ihre Heimat. Wer bleibt und dort weiterlebt, kann nicht für Dienstleistungen bezahlen. Das bedeutet, dass die kleinen und mittleren Internetbetreiber nicht genug Geld für die Instandhaltung ihrer Netze haben, sondern dass sie nach der Invasion neue Leitungen bauen müssen. Wir müssen diese KMU-Betreiber mit Zuschüssen unterstützen.

Wie passen Telekommunikationsunternehmen ihren Betrieb an den Konflikt an?

In der Ukraine gibt es 34.000 Basisstationen. 93 Prozent davon hatten Akkus mit unterschiedlicher Stromwirkung und Kapazität. Viele von ihnen mussten ausgetauscht werden, weil einige Batterien alt waren. Sieben Prozent der Basisstationen brauchten Generatoren. Ob das ausreicht, um während eines möglichen Stromausfalls eine qualitativ hochwertige Kommunikation zu gewährleisten, ist eine große Frage. Gleichzeitig befindet sich in den Städten ein Teil der Basisstationen auf den Dächern der Gebäude. Dort ergeben sich Probleme in Sachen Logistik und Wartung, selbst wenn Generatoren vorhanden wären.

Das heißt, die Welt hat immer noch keine klare Antwort darauf, was in unserer Situation zu tun ist, um die Standardqualität der Kommunikation zu erhalten. Aber was haben wir erreicht? Die Mobilfunkbetreiber haben neue Frequenzen erhalten, ohne dafür zahlen zu müssen. Außerdem hat die Regierung die Zahlungen für die Stromsäulen gestrichen. Die Regierung, Telekommunikationsverbände und Unternehmen haben Spenden für die Wiederherstellung der Netze und ihre Aufrechterhaltung erhalten. Wir wissen ihre Unterstützung zu schätzen und sind uns darüber im Klaren, dass das Leben unserer Bürger:innen unsere oberste Priorität ist, wenn wir für unsere Unabhängigkeit kämpfen.

Das ist die größte Herausforderung. Deshalb haben wir gemeinsam mit unseren Partnern und Interessenvertretern und den Regierungen befreundeter Länder nach Lösungen gesucht.

Wenn Sie einen Vorschlag zur Vorbereitung von Mobilfunknetzen auf Konfliktzeiten hätten, welcher wäre das?

Die Erfahrungen der Ukraine im Krieg mit dem Aggressor sind nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch an der Telekommunikationsfront einzigartig – vor allem bei der Entwicklung und Stärkung der Stabilität von Internet-Netzwerken und der Kommunikation. Für die Zukunft wäre es wünschenswert, wenn die Ukraine und die Welt die Kombination verschiedener Notstromsysteme und die Zunahme unabhängiger Internetverkehrskanäle auf zwischenstaatlicher und interkontinentaler Ebene vorantreiben würde.

Außerdem hat der Krieg in vollem Umfang gezeigt, dass die Zahl der Verbindungsleitungen für den Austausch vom Internetverkehr auf mindestens drei unabhängige Punkte erhöht werden muss. Zusätzlich müssen die Anforderungen an die Kanalkapazität, die Knotenpunkte und die Datenzentren der verschiedenen Klassen überprüft werden.

Nur wenn die Kommunikationsbranche ihre eigene Verantwortung für die Dienste, die sie ihren Kund:innen anbietet, erkennt und ihr Geschäftsmodell vom reinen Geldverdienen auf zuverlässige Dienste in Krisenzeiten umstellt, werden wir in der Lage sein, den Angreifer zu besiegen.

Wie ich bereits zu Beginn sagte, stehen wir jetzt vor großen Herausforderungen, und ich fordere Sie auf, die Gelegenheit zu nutzen und in der Ukraine Ihre kreativsten und wildesten Ideen zu testen!

Ausblick:

Eine Welle der Solidarität, das ist die Antwort auf den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Unzählige Organisationen und Initiativen bemühen sich darum, die Menschen in der Ukraine und diejenigen, die geflohen sind, nach besten Kräften zu unterstützen.

Die aconium GmbH unterstützt seit mehreren Jahren die ukrainische Regierung im Bereich digitaler Infrastrukturen und möchte dies auch weiterhin tun. Um den nun nötigen Wiederaufbau der Infrastrukturen zu ermöglichen hat die aconium GmbH die Initiative „Fibre-For-Freedom“ ins Leben gerufen und möchte damit der deutschen TK-Branche und deren Verbände sowie deutschen Ministerien einen Weg bereiten, um Sach- und Geldspenden im Bereich der TK-Infrastrukturen der Ukraine zukommen zu lassen. Die aconium wird aufgrund der jahrelangen Expertise die Initiative koordinieren, Planungsleistungen erbringen und zwischen allen Akteuren vermitteln.

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