Foto: Prof. Dr. Peter Haas, Fachhochschule Dortmund, University of Applied Sciences and Arts, Medizinische Informatik

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen bietet enormes Potenzial. Aber wo werden bereits heute eHealth- und mHealth-Anwendungen eingesetzt? Welche Möglichkeiten bieten E-Learning-Angebote in der Medizin? Und wie könnte die Transformation des Gesundheitswesens vollzogen werden? Im aconium-Interview „5 Antworten“ erklärt Prof. Dr. Peter Haas, Professor für medizinische Informatik an der Fachhochschule Dortmund, die wichtigsten Begriffe und den Mehrwert digitaler Lösungen in der Medizin anhand praxisnaher Beispiele.

aconium: Auf welchen Gebieten werden bereits heute eHealth- und mHealth-Anwendungen eingesetzt?

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Quelle: Prof. Dr. Peter Haas, Copyright: aconium GmbH

Professor Haas: Zuerst einmal sollte man erklären, was eigentlich eHealth ist, denn viele setzen das zum Beispiel mit Telemedizin gleich. Aber eHealth umfasst eben – nimmt man zum Beispiel die WHO-Definition zur Hand – vieles mehr, nämlich jeglichen Einsatz der Informationstechnologie im Gesundheitswesen. Damit wird deutlich, dass sich eHealth heute durch so gut wie alle Bereiche des Gesundheitswesens zieht. So kann man sich im Grunde eine Vierfelder-Tafel vorstellen, in der an den Achsen links vertikal Gesundheitsinstitutionen und Bürger/Patienten stehen und oben horizontal lokale Anwendungen und vernetzte Anwendungen. Dann haben wir im oberen linken Quadranten die lokal betriebenen Systeme in den Einrichtungen wie Arztpraxis-, Pflege- und Krankenhausinformationssysteme mit allen ihren Subsystemen, im rechten oberen Quadranten alle vernetzten Anwendungen, die die Kommunikation und Kooperation zwischen den Einrichtungen unterstützen wie zum Beispiel eArztbriefkommunikation, eNotfalldaten, eBG-Bericht, Elektronische Patientenakte und die vielfältigen Telemedizinanwendungen wie zum Beispiel Teleradiologie, Telepathologie, Teleintensivmedizin. Im linken unteren Quadranten finden sich dann die lokalen Anwendungen für Patienten, also PC-Anwendungen oder medizinische Apps, die rein lokal laufen können. Schlussendlich liegen im rechten unteren Quadranten dann vernetzte Anwendungen für Bürger und Patienten, also zum Beispiel auch jene Apps, die mit zentralen Servern zusammenarbeiten. Besonders interessant wird es dann aber, wenn Anwendungen eine Brücke bauen und Patientenanwendungen (also die in den unteren zwei Quadranten) mit Anwendungen des professionellen Versorgungssystems (also jenen in den oberen beiden Quadranten) verbinden und so ein Datenaustausch beziehungsweise eine Zusammenarbeit zwischen Patienten und den behandelnden Institutionen ermöglichen. Ein Beispiel: Die im Krankenhauszukunftsgesetz geförderten Klinik-Patientenportale. Hier sollen Patienten schon vor dem Krankenhausaufenthalt Dokumente einstellen, Anamnesen ausfüllen und Fragen an das Krankenhaus elektronisch stellen können. Auch wäre damit eine, wenn notwendig, kurze Nachbetreuung machbar. Und mHealth heißt ja nur, dass Anwendungen dann auch mobil genutzt werden können – das kann die Tablet-Anwendung für die Pflegekraft im Krankenhaus oder den ambulanten Pflegedienst sein oder eben die Ernährungs-App für den Patienten.

aconium: Welche weiteren Möglichkeiten eröffnen die Digitalisierung des Gesundheitswesens?
Professor Haas: Im Grunde geht es um eine Transformation des Gesundheitswesens hin zu einem effektiven und hochkooperativen und partizipativen Ökosystem, in dem der Patient selbst auch – soweit er das kann und will – und/oder seine Angehörigen zum Akteur, also zum Mitglied seines eigenen Behandlungsteams wird. Basis für ein solches Gesundheitssystem sollten EPA-basierte Behandlungsmanagement-Plattformen sein, wie ich sie in der Studie für die Bertelsmann Stiftung beschrieben habe. In Summe darf es aber nicht nur um die Digitalisierung des „Alten“ gehen, sondern es müssen auch neue Organisations- und Versorgungmodelle gedacht werden, die das Potential zum Beispiel von Telemedizin mit ausschöpfen und in bester Weise für die Patienten und deren Behandlungen zeitnah die notwendige Expertise verfügbar machen. Einige kleine Beispiele: Täglich beschäftigen sich alle Praxen mit Blutabnahmen. Warum wertvolle Ressourcen blockieren? Warum nicht da, wo es die Bevölkerungsdichte sinnvoll macht, Blutabnahmestationen einrichten, die auf Basis „verordneter“ digitaler Laborprofile in der EPA des Patienten quasi als Auftragsleistung Blut abnehmen und an die Labore versenden? Der behandelnde Arzt erhält dann den Laborbericht. Warum nicht telemedizinische Erstkonsultationszentren schaffen, die Vorklärungen und Anamnesen vornehmen und so den gezielten Zugang zur Versorgung steuern oder sogar Arztbesuche überflüssig machen können? Warum nicht eine regionale digitale Leistungsangebots- und Terminbuchungsplattform etablieren, sodass sich der Patient nicht die Finger wundtelefonieren muss, um irgendwo einen möglichst zeitnahen Termin für eine Untersuchung zu bekommen.

Des Weiteren wird auch der Wertebeitrag eines digitalen Wissensmanagement sowohl innerhalb der Einrichtungen als auch in Community-Plattformen unterschätzt. Wir wissen inzwischen, dass in keiner anderen Branche der jährliche Wissenszuwachs so groß ist, wie in der Medizin. Für eine zeitnahe Translation braucht es auch Wissensvermittlungs- und -managementplattformen. Aber auch Behandlungsstandards, Prozesstemplates und viele andere Wissensbausteine. Also auch in diesem Bereich gibt es noch riesige Potentiale im Gesundheitswesen, die nicht annähernd ausgeschöpft sind.

aconium: Was sehen Sie als Herausforderung bei der Einführung von digital Health-Technologien und wie können diese Ihrer Meinung nach überwunden werden?
Professor Haas: Lassen Sie mich zuerst die zwei wichtigsten Aspekte nennen, die ich für eHealth-Anwendungen sehe: Nutzen und Nutzbarkeit, was aber keine Herausforderungen im eigentlichen Sinne sind, denn es sind unumgängliche Forderungen, die im Prinzip einfach erfüllt werden können. Ergänzend haben wir dann aber wirkliche Herausforderungen, wobei aus meiner Sicht hier vier wesentliche genannt werden können: Die erste wichtigste Herausforderung ist eine breite Akzeptanz für die Digitalisierung im Gesundheitswesen bei Ärzten, Pflegekräften, allen anderen Heilberuflern, den Bürgerinnen und Bürgern und Patientinnen und Patienten. Zu oft gibt es noch Vorbehalte oder es werden Datenschutzaspekte vorgeschoben. Natürlich muss Vertraulichkeit und Datenschutz gewährleistet sein, das ist für mich eine Selbstverständlichkeit. Daher sind Apps, die erzwingen, dass man persönliche Gesundheitsdaten auch auf externen Servern ablegen muss oder dies sogar im Hintergrund ohne Wissen des Benutzers tun, ein No-Go. Und wenn es notwendig ist, muss das durch den Anwendungsfall begründet sein (zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Arzt, Therapeuten, dem man seine Daten zur Verfügung stellt oder zur Integration mit einem EPA-System). Und natürlich muss für Akzeptanz auch Nutzen und Nutzbarkeit der Anwendungen gewährleistet sein. Zum Zweiten ist es die Finanzierung von eHealth-Anwendungen. Immerhin hat man in Deutschland mit den Möglichkeiten einer „App auf Rezept“ für die Anwendungen der o.a. unteren zwei Quadranten einen wichtigen Schritt getan und mit dem Krankenhauszukunftsgesetz wird die Weiterentwicklung in den Krankenhäusern mit rund 4,5 Milliarden Euro aktuell gefördert. Fördermäßig etwas alleingelassen bleiben jedoch leider digitale Innovationen in ambulanten Versorgungseinrichtungen. Aber auch Vernetzung und Zusammenarbeit werden durch die nationale Telematikplattform und entsprechende Erstattungen gefördert. Trotzdem bleibt es für Innovationen schwierig, nachhaltig finanziert – also auch für Softwarepflege und -weiterentwicklung – in die Versorgung zu kommen, so eben für viele Anwendungen kleiner Spin-Offs und Ergebnissen aus Hochschul-F&E-Projekten. Zum Dritten ist die Standardisierung wichtiger Informationsobjekte und Schnittstellen für mehr „offene“ Interoperabilität zwischen eHealth-Anwendungen zu nennen. Und Viertens gibt es das Problem, dass viele nutzbringende und intelligente Anwendungen nach der neuen Medical Device Regulation (MDR) und hier vor allem aufgrund der Regel 11 zum Medizinprodukt werden. Das schafft riesige Barrieren für Innovationen, kleine innovative Firmen und Hochschulen, die die für MDR-Zertifizierung und Zulassung notwendigen Maßnahmen und Kosten gar nicht stemmen können. Hier wurde also durch die EU verschlimmbessert. Schon die Berechnung eines Scores kann eine ganze Software nun plötzlich zum Medizinprodukt machen, auch wenn Transparenz und Überprüfung dieser einen Funktionen und damit die Patientensicherheit einfach zu bewerkstelligen wäre.

aconium: Welche Chancen sehen Sie im Bereich der Nutzung von E-Learnings für medizinisches Personal?
Professor Haas: eLearning wurde lange in Deutschland unterschätzt. Vor circa 20 Jahren habe ich eine Lehrveranstaltung „eLearning in der Medizin“ in unser Curriculum eingebracht und diese auch einige Jahre gehalten, da ich der Meinung war, dass auch das ein Berufsfeld für Medizininformatiker wird. Aber wir haben bei Krankenhäusern und anderen Institutionen kein Interesse für Projekte und Innovationen gefunden und vor acht Jahren die Vorlesung wieder aus dem Fächerkanon herausgenommen. Traurigerweise wäre eLearning ohne Pandemie in Deutschland immer noch kein Thema. Das zeigt, wie wir in Deutschland bei der Digitalisierung doch überall erst reaktiv handeln, wenn die Notwendigkeit blank liegt, proaktives Handeln habe ich in meinen nun über 40 Berufsjahren vor allem im Gesundheitswesen bezüglich der Digitalisierung so gut wie nie erlebt. Also: Die Chancen des eLearning in der Medizin – vor allem bei der Wissensvermittlung aber auch beim fallbasierten Lernen – sind riesig, auch für die Aufklärung für Patienten. Multimedialität, graphische Simulationen und Interaktivität schaffen hier eine neue Dimension, um raum- und zeitunabhängig effektiv und gezielt zu lernen. Das kann dann in der Medizin bis hin zur Schulung der Bedienung von komplexen Geräten gehen. Gerade für das eLearning in der Medizin würde ich mir auch eine abgestimmte Finanzierungsinitiative von BMG und BMBF wünschen.

aconium: Wie sieht Ihre Vision eines Gesundheitswesens von morgen aus?
Professor Haas: Noch mehr patientenzentriert und -individualisiert, zielgenauer skalierend, transparenter, Patienten-partizipativer und intelligenter. Ohne Sektorengrenzen dank digitaler Zusammenarbeit aller Beteiligter an einem Behandlungsprozess, dazu prospektiv planend auf Basis einer Behandlungsmanagementplattform. Also für den Patienten einfacher zu durchschauen, digitaler und gleichzeitig zugewandter.